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Titel
Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde


Autor(en)
Brodersen, Per
Erschienen
Göttingen 2008: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Thum, Freiburg Institute for Advanced Studies

Vor einigen Jahren publizierte Bert Hoppe seine Magisterarbeit zur Nachkriegsgeschichte der Stadt Kaliningrad.1 Hoppe gelang es in dieser exzellenten Studie, auf nur 150 Seiten den Wiederaufbau dieser Stadt „auf den Trümmern von Königsberg“ pointiert und mit Sinn für das bezeichnende Detail zu beschreiben. Das Buch machte den Anfang in einer Reihe ähnlich angelegter Studien zur Nachkriegsgeschichte von Städten in Ostmittel- und Osteuropa, die nach radikalen Bevölkerungs- und Grenzverschiebungen eine Art zweiter Stadtgründung erlebt haben.

Einer Magisterarbeit waren naturgemäß Grenzen bei der Erschließung von Primärquellen gesetzt. Daher hat sich Per Brodersen noch einmal Kaliningrads angenommen, um auf erweiterter Quellengrundlage im Rahmen einer Dissertation der Sowjetisierung der einst deutschen Region auf den Grund zu gehen. Die Stadt Kaliningrad steht weiterhin im Vordergrund, auch wenn Brodersen den gesamten Kaliningrader Bezirk in den Blick nimmt. Anders als Hoppe, der den architektonischen Wiederaufbau ins Zentrum seiner Untersuchung gerückt hat, widmet sich Brodersen vor allem den Mythen, Symbolen und Riten, mit denen Kaliningrad in seinem russisch-sowjetischen Kontext ausgestattet wurde. Festgehalten hat er allerdings an Hoppes Untersuchungszeitraum. Aus forschungspragmatischen Gründen endet dieser mit Beginn der 1970er-Jahre.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile: der eine ist der politisch-administrativen Gründung Kaliningrads gewidmet, der andere den Versuchen der regionalen und zentralen Regierungen, Kaliningrad mit einer lokalen bzw. regionalen Identität auszustatten, die ein Aufgehen der Region in der Sowjetunion erlaubte. Die Untersuchung beginnt mit der wichtigen, leider nicht weiter diskutierten Beobachtung, dass die Regierung in Moskau der Integration Kaliningrads nur wenig Interesse schenkte. Dies zeigte sich schon daran, dass Königsberg erst im Sommer 1946 in Kaliningrad umbenannt wurde, die Umbenennung der Ortsnamen generell chaotisch verlief und Mitarbeiter des Moskauer Verkehrsministeriums offensichtlich noch 1947 über die geographische Lage des Kaliningrader Bezirks so unvollkommen informiert waren, dass sie fehlerhafte Landkarten produzierten. Die russische Besiedlung des Gebietes verlief schleppend. Die vom Krieg schwer gezeichnete Region, über deren Zukunft Zweifel bestanden, erschien nicht unbedingt attraktiv. Die sowjetische Führung war sich zunächst auch gar nicht im Klaren darüber, wie mit den verbliebenen Deutschen zu verfahren sei. Ihre Aussiedlung wurde schließlich so nachlässig vorgenommen, dass erst Anfragen der DDR und der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren der Regierung in Moskau zu Bewusstsein brachten, dass man einige Zehntausend deutsche Ostpreußen bei der Aussiedlung vergessen hatte.

Im zweiten Teil zeigt Brodersen, wie schwierig sich die Entwicklung einer sowjetischen Regionalidentität für das einstige Königsberg gestaltete. Die zunächst von der politischen Führung propagierte These vom "urslawischen Boden" war so hanebüchen, dass selbst die sowjetische Akademie der Wissenschaften ihr die Unterstützung verweigerte und man sie Mitte der 1950er-Jahre kurzerhand fallen ließ. Anschließend versuchte man, Kaliningrad mit dem Verweis auf russische Nationalhelden, die sich irgendwann mal eher zufällig in der Region aufgehalten hatten, in die russisch-sowjetische Geschichte einzugliedern.

Hinzu kam die Beschwörung des sowjetischen Sieges über die deutschen Verteidiger von Ostpreußen im Frühjahr 1945, der als glorreiche Vernichtung eines Brückenkopfes des preußisch-deutschen Imperialismus dargestellt wurde. Ein stabiles Regionalbewusstsein ließ sich auf einer so artifiziellen und selektiven Wahrnehmung der Regionalgeschichte jedoch kaum gründen. Zudem führte die Dämonisierung der preußisch-deutschen Geschichte der Region dazu, dass ein guter Teil des 1945 ohnehin schwer zerstörten architektonischen Erbes durch Abriss und Vernachlässigung zugrunde ging, sinnfällig in der Sprengung der Königsberger Schlossruine 1969. Dass der Dohna-Turm, das Kantgrab und ausgerechnet auch das Schillerdenkmal in Kaliningrad erhalten blieben, waren die Ausnahme einer Politik, die Kaliningrad eher auf einer tabula rasa errichten wollte.

Der sowjetischen Propaganda mit ihren Zukunftsbeschwörungen zum Trotz, kam Kaliningrads Wiederaufbau nur mühsam voran und die Region begann eher auf niedrigem Niveau zu stagnieren als sich den sowjetischen Utopien von Wohlstand und Modernität anzunähern. Nicht einmal die Verweise der Bewohner und regionalen Führungen auf Kaliningrads besondere Situation als westliche Stadt der Sowjetunion, als Frontstadt oder sowjetistische unter den sowjetischen Städten erweckten nachhaltiges Interesse in Moskau. Kaliningrad blieb eine vom Zentrum politisch und ökonomisch vernachlässigte Peripherie.

Umso interessanter wäre es vor diesem Hintergrund zu erfahren gewesen, welchen Nutzen „die Stadt im Westen“ aus der wachsenden Westorientierung der Sowjetunion nach 1970 ziehen konnte, wie sich das wachsende Regionalbewusstsein der Zeit nach 1989 auf das nun zur Exklave werdende Kaliningrad sowie die deutsch-russische Annäherung auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit der Region auswirkte. Doch Brodersen endet 1971 und thematisiert nicht mehr die jüngere Geschichte, in der sich nach Jahrzehnten der Stagnation ein erhebliches Maß an politischer und ökonomischer Dynamik entfaltete.

So entsteht der Eindruck, dass Brodersen die Ergebnisse von Hoppes Kaliningrad-Buch um manch interessante Beobachtung ergänzen und insgesamt bestätigen, aber ihnen zu wenig Neues und Überraschendes hinzufügen kann. Da er den architektonischen Wiederaufbau, den Hoppe wohlweislich ins Zentrum gerückt hatte, fast gar nicht mehr behandelt, entsteht eine empfindliche Lücke. Gerade in der Architektur wird doch das Wesen Kaliningrads als sowjetische Neu- und Umgründung besonders deutlich sichtbar und hätte sich durch Illustrierungen eindrücklich vor Augen führen lassen.

Brodersen hat sich besonders für das Verhältnis von Zentrum und Peripherie interessiert, also für die Position, die Kaliningrad nach dem Willen der politischen Führung im Rahmen der Sowjetunion einnehmen sollte und wie zu diesem Zwecke mit der Geschichte und den materiellen Hinterlassenschaften der deutschen Vorgängerstadt umgegangen wurde. Dazu hat er Interessantes aus dem Fundus von Archivdokumenten und offiziellen Verlautbarungen geborgen.

Da Kaliningrads Geschichte allerdings kein Einzelfall in Ostmitteleuropa war, hätte es eigentlich nahegelegen, sich auf die bereits vorliegenden und gerade im Entstehen begriffenen Untersuchungen zu ähnlichen Stadtschicksalen wie denen von Breslau, Danzig, Stettin, auch Minsk und Grodno zu beziehen, um so das Spezifische an der Entwicklung Kaliningrads herausarbeiten. Dass er die inzwischen möglich gewordene Chance einer vergleichenden Perspektive gar nicht genutzt hat, ist schade. So bleibt der Eindruck, dass Brodersens Arbeit das Wissen über Kaliningrads schwierige Neugründung beträchtlich erweitert hat und inspirierende Fingerzeige gibt. Eine Geschichte Kaliningrads aber, die die Entwicklung seit 1945 als Ganzes in den Blick nimmt und vor ihrem größeren, ostmitteleuropäischen Kontext betrachtet, ist noch nicht geschrieben.

Anmerkung:
1 Bert Hoppe, Auf den Trümmern von Königsberg. Kaliningrad 1946-1970, München 2000.

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